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Haben Sie auch den Corona-Weihnachts-Blues? Oder: Wie der wahre Blues zum Wellenbrecher wird

Haben Sie auch den Corona-Weihnachts-Blues? Oder: Wie der wahre Blues zum Wellenbrecher wird

Haben Sie auch den „Corona-Weihnachts-Blues“? Oder: Wie der wahre Blues zum Wellenbrecher wird

Was trifft die augenblickliche Gemütslage besser als der Blues? I feel blue. Der Corona-Blues is back in Town. Emotional befeuert wird diese Stimmungslage natürlich hauptsächlich vom vermaledeiten „Lockdown-Corona-Gespenst“, das uns auch dieses Jahr wieder das Weihnachtsfest vermiesen will. Wer denkt da nicht unwillkürlich an Bill Murray in „Und ewig grüßt das Murmeltier.“? Oh Gott, nicht schon wieder! Doch keine Angst, liebe LeserInnen, hier folgt keine weitere „Doomsday“-Einladung und ich will Ihnen hier auch nichts verkaufen; die glücklicher Weise gut überstandene jüngste und absurdeste aller bisherigen „Black-Friday-Konsumwahnsinns-Wochen“ liegt ja nun auch hinter uns. Das macht Mut. Doch dieser Mut droht nun schon wieder von neuen Sorgen zerfressen zu werden. Ich frage mich: Was macht diese Sorgen so besorgniserregend? Vielleicht gerade das speziell Ungreifbare der Pandemie, das heimtückisch Verborgene, dass die Seele mehr in Panik versetzt als eine real anfassbare Bedrohung. Es sind wohl eher diese auf Taubenfüssen daherkommenden, deshalb kaum hörbaren, diffusen, novemberhaft-milchignebeligen Wirkkräfte, die unser Gemüt belasten und für sehr viel Trouble in Mind sorgen.

Viele werden sich gedacht haben: Ach, das anstehende Weihnachtsfest könnte heuer so schön werden. Wird es aber nicht. Denn weit und breit sind alle Vorweihnachtsfreuden schon verbannt; keine warmplüschigen Glühweintreffen mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt, keine hochprozentigen betriebsinternen Weihnachtsrauschengelfeiern. Stattdessen erdulden wir gehorsamst staatlich reglementierte Gängelungen des Alltags und die nicht zu vergessene selbstauferlegte Form der „sozialen“ Amputationen.

Das Gebot der Stunde lautet: Werde Surfer, reite die Welle, bis sie bricht.

Allseits nur tristes Hoffen und Bangen, denn vor uns baut sich ja gerade turmhoch die vierte Pandemiewelle auf und wartet darauf, von uns geritten zu werden. So lautet also das Gebot der Stunde: Werde Surfer, reite die Welle, bis sie bricht.  Übrigens ist es kein wirkliches Weihnachtswunder, dass das Wort „Wellenbrecher“ nun ja auch offiziell zum Wort des Jahres gekürt wurde.  Also schleunigst zurück zum Surfer, der siegreich die Welle reiten soll, nicht nur, um Reste vom Weihnachtsfest doch noch zu retten, sondern auch den Morgen danach. Aber wie nur? Was braucht er vor allem dazu? Ich meine, den wahren, den echten Blues! Die Welle zu reiten bis sie bricht, heißt für mich, ein Vehikel, ein krisenerprobtes Mittel zu finden, das mich nicht nur sicher durch den Gegenwartssturm in den sicheren Hafen leitet, sondern mir auch ein Terra Incognita aufzeigt, also die Eroberung von Neuland ermöglicht. Und deshalb ist es gar nicht so verkehrt, den guten alten Hermann Hesse hier mal gedanklich auf den Kopf zu stellen. Denn nicht nur dem Anfang wohnt ein Zauber inne, sondern auch der Krise. Ja, auch das Schlechte hat eine gute Seite. Und da wäre ich schon wieder beim Blues. Ist es doch insbesondere der Blues, der sich mit Krisenerfahrungen richtig gut auskennt: logisch, der Blues resultiert aus der Rassendiskriminierung und der Sklavereierfahrung und offiziell gilt die Sklaverei ja auch als abgeschafft, aber wirklich erledigt ist das Thema noch lange nicht. Lohndumping wie bei den Paketzustellern oder die Leiharbeiterproblematik beleidigen tagtäglich unser Gerechtigkeitsempfinden. Auch mentale Formen der Selbstversklavung machen uns heutzutage viel zu schaffen: Ist es nicht der Konsum, der zwanghafte Kaufrausch, der uns täglich aufs Neue versklavt, so ist es nun seit zwei Jahren die Pandemieerfahrung. Aber wir wissen ja alle aus eigener Erfahrung: Auch mit einer mentalen Behinderung lässt sich heute vorzüglich leben, und sei es auch auf Kosten der anderen oder unserer geschundenen Umwelt.

The blues and the abstract truth.

Was den Blues für mich zum wahren Wellenbrecher macht, sind vor allem drei Dinge: Reflexion, Improvisation und das Fragment. Was heißt das nun konkret?

1. Reflexion: So wie im Blues die thematischen Motive im emotionalen Befindlichkeitsmodus der Melancholie und Trauer zum Ausdruck kommen, macht auch die gegenwärtige Pandemieerfahrung nur allzu deutlich: Die Würde des Menschen zeigt sich gerade auch in seiner Verletzbarkeit. Wir alle leiden durch Corona an Zuständen wie der zunehmenden sozialen Vereinsamung und vor allem auch an Auswüchsen von sozialer Verwahrlosung der Umgangsformen und das nicht nur in der medialen Welt. Der Blues weist uns an dieser Stelle auf eine tieferliegende Wahrheit hin, die im ersten Moment schmerzhaft und traurig, dann aber in letzter Konsequenz heilsam und zuversichtlich stimmt. Will sagen: Willst du an deiner momentanen Gemütsverfassung etwas verändern, dann schau erst mal in dich selbst hinein. Nur so funktioniert nachhaltige Veränderungsarbeit, egal welcher Couleur. Zuerst kommt stets die Ist-Stand-Analyse, so auch im Blues. Fragen tauchen auf wie: Was ist mit mir los? Woran leide ich? Was läuft gerade alles schief? Und wie kann ich das Ruder wieder rumreißen, oder um unsere Surfer-Metapher wieder zu beleben: Wie kann ich die Welle so reiten, dass ich wieder mehr agiere, anstatt nur zu reagieren und den Dingen völlig gestresst nur hinterher zu hecheln. Den Kopf nur in den Sand zu stecken, kann keine Alternative sein.

Wir wissen alle: die drängenden Gegenwartsfragen sind von komplexer Natur. Egal ob der Klimafrust nervt oder die Angst vor einem drohenden Jobverlust, Stichwort Digitalisierung, mir im Nacken sitzt. Die Suche nach stimmigen Lösungen ist oft eine subtile Angelegenheit, und eine subtile Sache erfordert ein subtiles Vorgehen. Und nichts anders passiert im Blues. Das emotionale Hintergrundrauschen der Melancholie und Trauer ist im Blues musikalischer Ideengeber für eine konstruktive Lösungsarbeit auf einer anderen Ebene. Der kreative musikalische Akt generiert Energie und neue Lebensfreude. Wodurch gelingt diese wunderbare Form der Transformation? Nur mit Hilfe der Improvisation. Und das führt mich zum zweiten wichtigen Part des hier skizzierten Wellenbrecherphänomens.

2. Improvisation: Grundsätzlich ist der Blues einfach gebaut und weist einen simplen Strukturrahmen auf.  Eine häufig auftretende Bluesform hat zwölf Takte, die Melodie wird mit drei Akkorden -harmonische Grundfunktion – begleitet. Richtig interessant wird es aber erst, wenn musikalisches Neuland betreten wird, also das Improvisieren beginnt. Aber was genau ist Improvisation? Wikipedia beispielsweise definiert Improvisation wie folgt: „Als Improvisation wird die Form musikalischer Darbietung verstanden, in der das ausgeführte Tonmaterial in der Ausführung selbst entsteht und nicht vorher schriftlich fixiert worden ist.“ Anders gesagt: kein vorab in Zement gegossener Plan, der dann sklavisch umgesetzt wird, diktiert das Geschehen, sondern erst der unmittelbare musikalische Dialog zwischen den Instrumenten schafft den gewünschten Freiraum für neue Ideen. Dieser offene Prozessgedanke liefert den geistigen Treibstoff, den es braucht, um Substantielles zu schaffen. Und nur so entsteht der Moment der Magie, das, was uns am Blues fasziniert und schwärmen lässt. Aber der Blues kann noch viel mehr, nämlich als Klärungshelfer die eigentlichen Fragen ins richtige Licht rücken. Der iranische Regisseur Abbas Kiarostami sagt es so: „Ich habe oft festgestellt, dass wir nicht in der Lage sind, das zu sehen, was wir vor uns haben, es sei denn, es befindet sich in einem Rahmen“, heißt: die Struktur klärt die Dinge oder prägt die Inhalte.

Und es taucht noch ein weiterer magischer Moment auf, der Ausweg aus der Krise sein kann: der Akt des kreativen Zerstörens. Blues transformiert Trauer in neue Lebensenergie, ja Daseinsfreude. Im Blues liegt das Strukturprinzip der kreativen Zerstörung; die schmerzhaft bewusstwerdende Enttäuschung schafft kreativen Raum für Neues; das Leiden an eine ganz spezielle Situation ist zwar pure Trauer, aber aus dieser kann viel neue Freude und Tatkraft erwachsen. Die Transformation von Trauer in musikalische Gestaltungsfreude ist ein genuines Strukturprinzip des Blues. Einerseits existiert da ein Verlustgefühl, gleichzeitig ist es der Resonanzboden für neue Einsichten und Erkenntnisse. Jetzt ist ein positiver, ja konstruktiver Kipppunkt erreicht, der neue Gedanken-räume öffnet und Neuland betretbar macht. Improvisation, das Gedankliche sich treiben lassen, kaskadenartige Gedankeneinfälle, die immerzu neue Erkenntnisfunken schlagen, neue Assoziationen im geistigen Auge des Hörers wecken, vielfarbige perspektivische Einblicke gewähren, um das schier Unsagbare, den geheimen Urgrund, anzudeuten. Neue Melodien, die der Blues aufnimmt und das Grundthema variiert. Die Ergänzung der Form selbst kommt von thematischen Motiven und Melodieideen.

3. Das Fragment im Sinne eines stets offenen Prozesses: Der Blues braucht das Publikum wie der Mensch die Luft zum Atmen. Es geht nicht ohne. Die Pandemie verbannt den Menschen zwar einstweilen wieder aus dem öffentlichen Leben, doch wir geben nicht auf. Mensch sein, heißt genauso im Kontakt miteinander zu sein wie im Blues. Niemand ist eine Insel und so brauchen wir gerade jetzt auch einen Improvisationsstil, der zum gedanklichen Weiterspinnen animiert und den augenblicklichen Reformstau auflöst. So wie der Blues bestrebt ist, den Lebenswillen des Menschen zu stärken, ihn zur Rebellion gegen die Wirklichkeit und gegen jeden Druck durch die Wirklichkeit aufzurütteln, so wird es auch uns gelingen, Antworten auf Fragen wie diese zu finden: Wie geht’s nach der Corona-Krise weiter? Was wollen konkret anders machen? Kurzum: Wie soll das „Neue Normal“ nach Corona aussehen?

Im Grunde ist alles ganz einfach: Den Blues kann man nicht verstehen, man kann ihn nur lieben. So geht „Poetisierung des Alltags“, und vielleicht finden wir auch so ein Stück vom diesjährigen Weihnachtsfrieden wieder. Probieren Sie es aus, hören Sie Blueslegenden wie Otis Rush und sein „I Can`t Quit You Baby“, The John Wright Trio mit dem wunderbaren Stück „La Salle St. After Hours“ oder „Stolen Moments“ mit Bill Evans am Klavier und dem großartigen Oliver Nelson. Das sind meine persönlichen „Wellenbrecher“- Favoriten. Und Ihre? Wie lautet Ihr Lieblingssong, der Ihnen, in Tagen wie diesen, den Tag rettet? Schreiben Sie mir doch gerne Ihren „Wellenbrecher“-Song, ich würde mich sehr freuen!

Advent heißt, ankommen. Also, kommen Sie gut an und feiern Sie trotz allem eine hoffentlich friedliche und besinnliche Weihnacht,

mit herzlichen I-feel-blue-Grüßen,

Ihr

Achim Neubarth

 

 

 

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